Von wegen reaktionäre Kulturwüste: Deutschland gewinnt Realsatire-Preis!

Deniz Yücel wurde mit dem Kurt-Tucholsky-Preis ausgezeichnet.

Das ist kein Witz!
Warum haben wir das nicht kommen sehen?

In der Verlegenheit, ohne den geringsten Sinn für Humor, Selbstkritik, oder lebendige politische Aussagen in der internationalen Kulturindustrie mitmachen zu können, werden in Deutschland von zuständigen Gremien üblicherweise Herrenwitze in der Tradition der 1950er Jahre handverlesen, gesammelt, als „Kabarett“ und „Satire“ etikettiert und mit entsprechenden Preisen versehen. Das ist nichts Neues.

Die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft verleiht ihren Preis seit 1995 an

engagierte deutschsprachige Publizisten oder Journalisten [sic][…], die der „kleinen Form“ wie Essay, Satire, Song, Groteske, Traktat oder Pamphlet verpflichtet sind und sich in ihren Texten konkret auf zeitgeschichtlich-politische Vorgänge beziehen.
Ihre Texte sollen im Sinne Tucholskys der Realitätsprüfung dienen, Hintergründe aufdecken und dem Leser [sic] bei einer kritischen Urteilsfindung helfen.

Preisträger_innen vor Yücel: Neun weiße Männer, eine weiße Frau.

Aus der Begründung der Jury:

In seiner Kolumne »Vuvuzela«, die während der Fußballweltmeisterschaft 2010 erschien, hat Yücel sowohl den deutschen Spießer als auch die deutsche Spießerin auf angenehme Art entlarvt. Dabei übersteigert er bewusst das nationalistische Element, riskiert lustige Wortspiele sowie einen überdeutlichen Stimmungsumschwung nach der deutschen Niederlage (»Gurkentruppe….«)

„ANGENEHM?“ Geht’s noch?

der braune mob 2010 zu einem Artikel von Yücel aus der Vuvuzela-Reihe:

Die Taz bewirbt sich auch 2010 um den Preis “rassistischste Mainstreampublikation Deutschlands”

Mit einem Artikel vom 23.6.2010, der allen Ernstes übertitelt ist “Meine Damen und Herren! Sorry, liebe N…er!” [Auslassungen von uns […]] und einem Zitat des Gedichts ’10 kleine N…lein’ in einem Artikel über ausscheidende afrikanische Teams […] am 20.6.2010 hat die ‘linke’ Tageszeitung Taz es geschafft, innerhalb von drei Tagen rassistische Witze auf Kosten Schwarzer zu machen.

Nein, natürlich kann man Rassismus nicht dadurch auflösen, dass man ihn reproduziert.


„Angenehm“. Das, wie es so schön heißt, lässt tief blicken. „Auf angenehme Art“ wird auch noch den letzten von uns klargemacht, wen wir mit der Jury der Tucholsky-Gesellschaft vor uns haben. Nicht zufällig wird hier überhaupt von „Spießer“ und „Spießerin“ gesprochen (ja, hier gibt es plötzlich zwei Geschlechter), statt von Rassismus und Sexismus, die Yücel zu karikieren versucht. Denn: Das „deutsche Heiligtum“, von dem Tucholsky noch spricht, ist doch längst nicht mehr der Spießer, sondern die Kritik an ihm. „Der Spießer“ ist immer das, was weiße Bildungsdeutsche nicht sind – und die lässt Yücel völlig in Frieden. Wen er kritisiert, ist „der Spießer“ an seinem Stammtisch, nicht das Kulturausschuss-Mitglied und die Germanistikdozentin, das antifa-Mitglied und die weiße Feministin. Yücel tritt nach unten. Die rassistische und sexistische hate speech, mit der er seine schludrige Pseudokritik aufpeppt, trifft Frauen und People of Color. Dafür ein „angenehm“ in die Tastatur zu bringen, schafft nur ein Mensch, der keinerlei Vorstellung hat von einem Leben in Angst vor sexistischer und rassistischer Gewalt. Und wer kann am befreitesten lachen über die comichaft überzogenen Klischees? Neben denjenigen, die den Stereotypen sogar in der überzogensten Form noch zustimmen: Die unter den weißen und/oder männlichen Menschen, die sich mit einem „SO bin ich nicht!“ bequem zurücklehnen können.

Gefährliche Stereotypen

Die Herausforderung des Stilmittels der ‚Kraßheit‘, für die Tucholsky eintritt? Falsch angewandt, übersehen wir darüber das eigentliche Ziel.
Patricia A. Turner schreibt in der New York Times über Dangerous White Stereotypes:

To suggest that bad people were racist implies that good people were not. […]
The White Citizens Councils, the thinking man’s Ku Klux Klan, were made up of white middle-class people, people whose company you would enjoy. An analogue can be seen in the way popular culture treats Germans up to and during World War II. Good people were never anti-Semites; only detestable people participated in Hitler’s cause.

Cultures function and persist by consensus. In Jackson and other bastions of the Jim Crow South, the pervasive notion, among poor whites and rich, that blacks were unworthy of full citizenship was as unquestioned as the sanctity of church on Sunday.

Gute, anständige Männer haben um die letzte Jahrhundertwende vertreten, dass Frauen weder studieren noch wählen sollten. Heute begegnet jede Kritik an einem sexistischen Vorfall der so schwülstigen wie aufrichtigen Beteuerung, wie sehr dem sympathischen Kritisierten an „der Gleichberechtigung der Frau“ gelegen sei.

Yücels Karikaturen verfehlen ihr Ziel.

Statt dessen treffen sie die, denen die Karikatur in der großzügigsten Lesart helfen sollte, wie halfjill schon im letzten Jahr festgestellt hat.

Der Ritterschlag der „Provokation“

Gebräuchlicher als „angenehm“ werden diskriminierende Aussagen als „provokant“ belobhudelt. Das steht nicht nur hinter der trotzig-verlegenen Formulierung der Jury, Yücel „riskier[e] lustige Wortspiele“, das schimmert auch durch in der Darstellung auf taz.de von matthias urbach:

Mit seinen “Vuvuzela”-Kolumnen hatte Yücel rund 1.200 Leserkommentare provoziert und war dabei gleichermaßen auf vehemente Ablehnung wie auf begeisterte Zustimmung der taz.de-User gestoßen. Bei der Frauen-WM 2011 gab es mit den “Trikottausch”-Kolumnen eine ebenfalls in vielen Kommentaren gewürdigte Fortsetzung.

Das sich so hartnäckig haltende wie ärgerlich beliebige Kriterium der „Umstrittenheit“ übersieht hier wie üblich großzügig, dass es gut erkennbare Fronten in dieser Meinungsverschiedenheit gibt: People of Colour und Frauen finden den Kram tendenziell mies, der unauffällig verschwiegene Inhalt der Vorwürfe ist Sexismus und Rassismus.

12-dimensionales Schach: Kritik durch Verstärkung oder Ihr Habt Den Witz Nur Nicht Verstanden

Über das Phänomen des „Hipster -ism“ schreibt s. e. smith

Hipster -ism works like this: Someone uses an -ism among a group of friends, and the friends laugh, because the idea is that they know it’s an -ism, they know it’s not acceptable, and it’s funny because of this. It’s ironic, geddit?
[…]
It’s true that different people have different senses of humour, but when entire classes of people fail to see something as funny, that may be a sign that, you know, it’s not funny.

Hipster -ism also props up cultural values, rather than breaking them down, by normalizing exclusionary language and ideas. When you make jokes about people of colour in a society which marginalizes people of colour, you are not being edgy, transgressive, or particularly funny. You are instead propping up the status quo. And, in a sense, privately justifying your privilege, although some hipsters are not even aware of the concept of privilege or of how it affects them.

Ob Yücel rassistische und sexistische Stereotype perpetuiert und verletzende Sprache normalisiert, ist nicht die Frage.
Den Beleg, dass diese Art von „Satire“ sich auf irgendeine Art subversiv auswirkt, bleiben Spaßvögel wie er uns – mit der größten Anmaßung von Witzischkeit ihrerseits und Unterstellung von Humorlosigkeit unsererseits – schuldig.

Tucholsky für alle

Die Verleihung der Auszeichnung an Yücel steht in einer ärgerlichen deutschen Tradition, sich autoritativ auf Tucholsky zu berufen, wann immer Kritik an politischer Satire gleich welcher Richtung geübt wird. Mit dieser Entgegnung wird sich regelmäßig aus der inhaltlichen Verantwortung gezogen, mit völliger Beliebigkeit darf sich auch noch der reaktionärste Dreck ins „Was darf die Satire?“-Nest kuscheln.

Die Frage, die nicht gestellt wird, ist: Was will die Satire?

Satire ist kein Selbstzweck. Satire will ihre Gesellschaft kritisieren – die Frage ist, wen, was und warum? Auch die Brennessel war eine Satirezeitschrift.
Ich bezweifle, dass sie bei Tucholsky auf dem Nachttisch lag.

6 Kommentare

  1. Uli

    Guter Artikel. Das ist echt phänomenal scheiße, was da in Tucholskys Namen gewürdigt wird. Er hat wohl scheinbar keine Nachkommen, die sowas einen Riegel vorschieben. 😦 Ja, die ohnehin schon dröge „seriöse“ Humorszene Deutschlands hat sich einen festen heteronormativen Rechtfertigungskokon gesponnen – denn Sartiriker_innen und Kabaretist_innen sind ja schließlich kritisch, also können die ja gar nicht diskriminieren (Argh!)… Selbst non-establishment Alternativen im Netz treiben ja leider so einen Scheiß. Ein Bekannter schreibt einmal Lustiges über seine Arbeit und die Koalition und treibt dann die Sexismus-Sau durchs Dorf – „ironisch“ versteht sich…
    Edutainment Attack ist außerdem großartig. Sozial bedeutsame Poetry Slam-Beiträge sind auch wirklich mal erschrischend. 😀

    In dem Kontext erkenne ich es als dringend überfällig, einen meiner Lieblingsphilosophen (Heidegger) endlich mal außerhalb seines Hauptwerks in seinem Kontext zu bewerten.

    • kiturak

      Er hat wohl scheinbar keine Nachkommen, die sowas einen Riegel vorschieben.

      Tja,

      Die Kurt Tucholsky-Stiftung (Hamburg) wurde von Tucholskys geschiedener Frau Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz ins Leben gerufen. Sie verwaltete und kontrollierte bis zum 31. Dezember 2005 das Urheberrecht an Tucholskys Werk und beteiligte sich bis zum Jahre 2003 an der Finanzierung des Kurt Tucholsky-Preises für literarische Publizistik.

      Das ist nun zwar Vergangenheit, aber in meiner Erfahrung heißt biologische Verwandtschaft von vornherein wenig, und allerspätestens ab der Generation, die den Menschen nicht mal mehr gekannt hat, garnix mehr. Statt dessen gibt es irgendwelche Leute, die sich eine posthume Sprachrohr-Funktion anmaßen.

      … außerdem bringt mich das Argument im Zusammenhang mit Tucholsky zum Lachen. (ETA: Übrigens gutes Beispiel dafür, dass Tucholsky auch nicht der strahlende Anti-Ismus-Held ist, als der er im Kollektivgedächtnis ruht.)

      Den Heidegger-Kram hab ich nicht verstanden, aber es interessiert mich auch nur begrenzt. ^^ Meinst Du das kleine Naziproblem?

      Heh, Mutlu Ergün.

  2. Uli

    Da zeigt sich, dass ich vom Bananenspruch mal abgesehen, keine Ahnung von Tucholsky habe. 😀 Ja, Verwandtschaft zu beschönigen war ganz schön albern und eigentlich seltsam von mir. Wenn ich ein Lebenswerk hätte und meine bisherige Blutsverwandtschaft das verwalten würde – das wäre nicht so richtig optimal, wahrscheinlich. Aber das regle ich genauer, wenn ich erstmal eins habe.

    Und ja, Heidegger war der Nazisache etwas zu sehr aufgeschlossen gegenüber, habe ich mir sagen lassen.

  3. Gnom

    „Denn: Das „deutsche Heiligtum“, von dem Tucholsky noch spricht, ist doch längst nicht mehr der Spießer, sondern die Kritik an ihm. „Der Spießer“ ist immer das, was weiße Bildungsdeutsche nicht sind – und die lässt Yücel völlig in Frieden. Wen er kritisiert, ist „der Spießer“ an seinem Stammtisch, nicht das Kulturausschuss-Mitglied und die Germanistikdozentin, das antifa-Mitglied und die weiße Feministin. “

    –> Gut beobachtet und auf den Punkt gebracht, hab ich gelesen wie etwas, das mir klar war, das ich aber noch nie gedacht oder irgendwo gelesen habe.

    Kritische Frage an dich: „Witzischkeit“ – Vertippt? Nachahmung von Yüzel? Oder Nachahmung von Dialekt? Letzteres (vielleicht auch zweiteres?) fände ich problematisch, Dialekt steht oft in Zusammenhang mit Vorurteilsbildung o.ä., in die Richtung „was weiße Bildungsdeutsche nicht sind“

    Ich kenne die kritisierten Akteur_innen deines Artikels nicht, aber auch unabhängig davon, finde ich deine Feststellung zu Provokation und Was will Satire? sehr gut und treffend.

    Statt eines Grußes: Wo ist deine Motzseite? Da stand mein letztes Mal verwendeter Nickname. . . ich glaube, es war Gnom, wie in dem U-Boot-Spiel

    • kiturak

      WITZISCHKAAIT KENNT KEINE GRENZEN! WITZISCHKEIT KENNT KEIN PADONG!“
      Ich geb Dir völlig recht mit den Dialekten, ich bin aus Bayern (München) (JA HA HA REESI! TRAKTOR!“, aber hier war es ein Hape Kerkeling-Zitat. Sehr BRD-zentristisch von mir.*
      Jedenfalls, danke!
      Die Motzseite. Such sie doch selber!! Nein, war nur Spaß. Ich find sie schon. NICHT WEGGEHEN! Ich such noch. Moment! … nee. Wart, vielleicht hier? … lalala. *kram* HIEER! Menno, unter „verurteilt mich“ natürlich. Es war Grog.

      *Nachtrag: Das heißt natürlich nicht, dass es in der Comedy nicht problematisch verwendet würde. In dem Fall: Weiß nich? Solangs sein eigener Dialekt ist, vielleicht, und: Es geht halt um Schlager/Karneval, würd ich saache. Schwierig, das ohne Dialekt zu karikieren, der gehört ja ziemlich wesentlich dazu. Zum karikierten Schenkelklopf-Schunkel-Dings.

      Nachtrag 2: Aber natürlich ist es problematisch, wenn das nicht als Zitat erkennbar ist. Ich bastel eine Fußnote. Dauert nur etwas.

  4. Pingback: Frauenverachtender Bushido für Integration geehrt « kulturindustrie und wahnsinn

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